Arbeit und Care
Who cares?
Ein Einstieg in die feministische Ökonomiekritik
Who cares?
Die Teilnehmenden entwickeln eine konkrete Utopie, wie viel Zeit sie gerne für welche Tätigkeiten aufwenden würden.
Who cares?
Format: Gruppenarbeit
Barrieren: Hören, Komplexität, Lesen, Sehen
Material: ein großes Stück Brownpaper/Flipchart, Zettel und Stifte Material zum Download: Arbeitsmaterial Schaubild, Hintergrundtext „4-in-1-Perspektive“
Zugänglichkeit: Es ist nicht erforderlich, aber hilfreich, wenn die TN sich vorab damit beschäftigt haben, was wir eigentlich unter „Wirtschaft“ verstehen, z. B. mit der Methode „Wirtschaft und ich“ (Methodenheft “Endlich Wachstum!”, Kapitel 1).
Die Teilnehmenden überlegen sich individuell, wie ihr idealer Tagesablauf aussähe, und entwickeln eine konkrete Utopie, wie viel Zeit sie gerne für welche Tätigkeiten aufwenden würden. Die verschiedenen Tätigkeiten werden entsprechend der Vier-in-Einem-Perspektive der Philosophin Frigga Haug eingeteilt. Nach einem Kurzinput über die darin formulierte Forderung nach einer ausgeglicheneren Verteilung von Lohnarbeit und anderen Tätigkeiten (z. B. Sorgetätigkeiten) aus feministischer Perspektive, erarbeiten die TN in Kleingruppen mögliche konkrete Auswirkungen.
Arbeitsmaterialien zum Download:
Vorbereitung
Die Anleitenden machen sich mit der Idee der 4-in-1-Perspektive von Frigga Haug (siehe Hintergrundtext und Quellenangaben) vertraut, sodass sie später in der Durchführung verschiedene Tätigkeiten je einem der vier Bereiche spontan zuordnen können. Ein großes Brownpaper wird in vier gleich große Felder für die vier Bereiche der 4-in-1-Perspektive eingeteilt (siehe Arbeitsmaterial). Auf DIN-A4-Papier wird je ein Bereich dieses Konzepts geschrieben: Erwerbsarbeit – Geld verdienen für die notwendigen Lebensmittel; Sorgearbeit (Reproduktionsarbeit) – sich um sich selbst und um andere kümmern; kulturelle Arbeit – sich selbst lernend entfalten; politische Arbeit – Gesellschaft aktiv mitgestalten. Auf ein weiteres Papier wird der Titel „Die 4-in-1-Perspektive (Frigga Haug)“ geschrieben. Für jede_n TN wird ein Zettel und ein Stift bereitgelegt.
Durchführung
1. Erstellung und Reflexion eines idealen Tagesablaufs (30 Minuten)
Die Anleitenden verteilen Zettel und Stifte an die TN. Sie fordern die TN dazu auf, sich eine Utopie ihres idealen Tagesablaufs als erwachsener Mensch zu überlegen und aufzuschreiben. Dazu gehört alles, wofür man an einem normalen Tag Zeit aufwendet: „Wie läuft euer idealer Tag ab? Wie viel Zeit verwendet ihr in etwa auf welche Tätigkeiten?“
Die TN stellen ihren exemplarischen Tagesablauf vor. Dabei notieren die Anleitenden die genannten Tätigkeiten in das passende Feld auf dem vorbereiteten Brownpaper. Zum Vergleich bietet es sich an, exemplarisch dazuzuschreiben, wie viele Stunden die TN für Lohnarbeit aufbringen würden.
Je nach Gruppengröße können alle oder nur ein Teil der TN ihren Tag darstellen. In letzterem Fall können die Anleitenden nach einigen Beispielen die Gruppe fragen, ob es noch zusätzliche Tätigkeiten gibt, die bisher nicht genannt wurden, bzw. ob es noch große Abweichungen bei einzelnen TN gibt.
Jetzt bringen die Anleitenden den vorbereiteten Titel des Schaubilds sowie die jeweiligen Überschriften für die einzelnen Felder nacheinander an und erklären die Einteilung kurz (siehe Arbeitsmaterial).
2. Reflexion des Tagesablaufs (10 Minuten)
Mit dem Blick auf die Tätigkeiten und ihre ungefähre Dauer am Tag werden die TN dazu angeregt, die Gewichtung der Tätigkeiten im Plenumsgespräch zu reflektieren. Einige der folgenden Fragen können dabei besprochen werden:
- Für welche Tätigkeiten habt ihr tendenziell am meisten Zeit eingeplant? Warum nehmen diese bei euch so viel Zeit ein? Sind sie besonders wichtig, machen sie besonders viel Spaß etc.?
- Welche Tätigkeiten nehmen in eurem idealen Tagesablauf nur sehr wenig Zeit ein? Warum ist das so?
- Gibt es in eurer Gruppe bei der Zeitaufteilung deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern? Wenn ja, wer bringt wofür mehr / weniger Zeit auf? Warum, glaubt ihr, ist das so?
- Welche Rolle spielt Erwerbsarbeit in eurem Tagesablauf? Warum habt ihr diesem Bereich diese Zeit zugeteilt? Warum gehört für euch Erwerbsarbeit dazu / nicht dazu?
- Welche Bedeutung hat der Bereich der Sorge- / Reproduktionsarbeit? Wie viel Zeit habt ihr dafür eingeplant? Woran liegt es, dass diesem Bereich tendenziell wenig Zeit zugeteilt wird?
- Wer macht aktuell überwiegend Erwerbs- und wer Sorgearbeit?
- Wie viel Raum nimmt bei den meisten von uns politische Arbeit / politisches Engagement ein?
3. Kurzvortrag (10 Minuten)
Im Anschluss an diese Diskussion stellen die Anleitenden die Grundidee und -forderung dar, die Frigga Haug in der 4-in-1-Perspektive entwickelt, und ergänzen dabei das Schaubild um die Aufschrift „4 Stunden“ in jedem Feld (siehe Arbeitsmaterial):
„Mit der 4-in-1-Perspektive will Frigga Haug uns eine Orientierungshilfe dafür geben, wie eine gerechte Verteilung von Zeit und Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern aussehen kann. Ihr Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass aktuell noch immer überwiegend Frauen unbezahlte Sorge- und Pflegetätigkeiten übernehmen (englisch: care work). Erwerbsarbeit wird hingegen in größerem Umfang von Männern geleistet.
Dies findet sie aus feministischer Perspektive problematisch, denn gesellschaftlich wird Lohnarbeit wesentlich mehr Bedeutung beigemessen als Pflegetätigkeit. Im Bereich der Lohnarbeit, leistet man etwas‘, hier wird ‚Karriere‘ gemacht, wer eine Lohnarbeit hat, gehört gesellschaftlich dazu. Die Sorgearbeit hingegen ist häufig unsichtbar, un- oder schlecht bezahlt und erfährt nur wenig gesellschaftliche Anerkennung. Wer sich um die Erziehung von Kindern und/oder die Pflege von Angehörigen oder Freund_innen kümmert, ist z. B. ‚nur‘ Hausfrau. Zusätzlich kommen kulturelle und politische Arbeit heute oft zu kurz, weil wir meist stark in Lohn- oder Sorgearbeit eingebunden sind.
Frigga Haugs feministische Utopie geht nun davon aus, dass jeder Mensch (bei acht Stunden Schlaf) etwa 16 Stunden am Tag in die gesellschaftliche Gesamtarbeit einbringen kann. Alle vier Bereiche – Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, kulturelle Arbeit und politische Arbeit – sind für die Gesellschaft sowie für jede_n Einzelne_n wichtig. In ihrer Vorstellung einer gerechten Verteilung von Zeit und Tätigkeiten sollen alle Menschen, egal ob Mann oder Frau, die Möglichkeit haben, ca. vier Stunden pro Tag für jeden Bereich aufzubringen. D. h. Männer würden tendenziell weniger Lohnarbeit nachgehen und sich mehr in Sorgearbeit einbringen. Frauen würden weniger von letzterer leisten und alle hätten mehr Zeit für kulturelle und politische Arbeit. Das ist natürlich nicht absolut gemeint, sondern als Orientierung für die gesamte Lebenszeit.
Zentrale Aspekte sind also:
1. Eine Verkürzung der Vollerwerbsarbeitszeit auf vier Stunden pro Tag bzw. vergleichbar 20 Stunden pro Woche; damit Zugang für mehr Menschen, vor allem für mehr Frauen, zu Lohnarbeit.
2. Eine stärkere Einbindung von Männern in unbezahlte Sorge-, Pflege- und Hausarbeit.
3. Insgesamt mehr Zeit für die sogenannte kulturelle Arbeit, d. h. für die persönliche Entwicklung, um das eigene Leben zu gestalten – nicht nur als Privileg der Reichen.
4. Für alle mehr Zeit für politisches Engagement, um die Gesellschaft aktiv mitzugestalten anstatt politische Entscheidungen einigen wenigen zu überlassen.
Diese Punkte bilden für Frigga Haug die Grundlage für politische Forderungen, die wir aus feministischer Perspektive stellen müssten. Und zwar notwendigerweise immer alle vier Bereiche zusammengedacht.“
Im Anschluss daran wird den TN Raum gegeben, Verständnisfragen zu stellen.
4. Abschluss und Auswertung (10 Minuten)
Im letzten Schritt versuchen die TN in Kleingruppen, die Auswirkungen einer solchen radikalen Veränderung unseres Arbeitsverständnisses und unserer gesellschaftlichen Aufgabenverteilung nachzuvollziehen. Sie finden sich dafür in Kleingruppen à ca. vier Personen zusammen. Sie werden dazu aufgefordert, sich vorzustellen, sie befänden sich in der Zukunft: „Die oben genannten Kernpunkte der 4-in-1-Perspektive wurden vor Kurzem politisch durchgesetzt, und jetzt sind die Auswirkungen auf die Gesellschaft spürbar. Welche Effekte könnt ihr beobachten? Welche Bereiche des Alltags haben sich verändert?“
Die TN schreiben ihre Antworten in Form von Zeitungsschlagzeilen auf DIN-A4-Zettel. Diese werden als eine „Wandzeitung“ an eine Pinnwand/Wand gehängt. Anschließend bekommen die TN Zeit, sich die Schlagzeilen der anderen Gruppen anzuschauen.
In der Auswertung kann auf folgende Fragen eingegangen werden:
- Wie leicht oder schwer ist es euch gefallen, euch Auswirkungen vorzustellen?
- Was sind für euch die wichtigsten positiven Auswirkungen?
- Wo habt ihr Bedenken?
- Welche Auswirkungen könnte die Umsetzung der 4-in-1-Perspektive auf den Arbeitsmarkt haben?
- Welche Auswirkungen könnte die Umsetzung auf Frauen- und Männerrollen haben?
Quellen:
Haug, Frigga: Die Vier-in-Einem-Perspektive. Eine Utopie für Frauen, die eine Utopie für alle ist. www.vier-in-einem.de. 2009.
Haug, Frigga: Die Vier-in-Einem-Perspektive und Hegemoniekämpfe um Arbeit. In: Konzeptwerk neue Ökonomie (Hrsg.): Zeitwohlstand. München 2014, S. 33-38.
Die Idee zum Einstiegsteil dieser Methode beruht auf einem Vortrag von Friederike Habermann. Wir bedanken uns dafür, dass wir diese hier weiterverarbeiten dürfen.
Varianten
Je nach Gruppe und Zeit kann der 3. Schritt auch weggelassen werden. Dafür sollte dann am Ende des 2. Schritts mit den TN noch über die gesellschaftlichen Auswirkungen einer Umsetzung der 4-in-1-Perspektive gesprochen werden.
Tipps für Anleitende
Bei dieser Methode ist es wichtig zu betonen, dass es sich bei der 4-in-1-Perspektive um eine Utopie,ein gesellschaftliches „Fernziel“ handelt, das als Orientierung dient. Dies soll dazu anregen, über ein gutes Leben für alle aus feministischer Perspektive nachzudenken und konkrete Politikmaßnahmen daraus abzuleiten.