Mehr Sein als Haben
Die Teilnehmenden (TN)
- üben eine achtsame Wahrnehmung ihrer (natürlichen) Umgebung.
- übernehmen Verantwortung füreinander und für sich selbst.
- reflektieren die Rolle menschlicher Bedürfnisse im Allgemeinen und eigener Bedürfnisse im Kontext globalen sozial-ökologischen Wandels
Ablauf
Hintergrund:
Die Imperiale Lebens- und Produktionsweise
In seinem Buch „Haben oder Sein“ beschrieb Erich Fromm bereits 1976, wie die Gesellschaft (im globalen Kapitalismus) vom Haben und Habenwollen bestimmt ist: Menschen, die immer mehr haben wollen, weil das (Wirtschafts-)system es so vorsieht. Das Konzept der imperialen Lebens- und Produktionsweise zeigt, wie der Wohlstand im Globalen Norden auf der Ausbeutung von Menschen und Natur – insbesondere im Globalen Süden – beruht. Die Konsumgesellschaft ist ein Fundament der imperialen Lebens- und Produktionsweise. Eine ungerechte globale Arbeitsteilung und Ressourcenausbeutung ermöglichen billige und ständig verfügbare Produkte. Werbung und Marketing verstärken die imperiale Lebens- und Produktionsweise, indem sie Konsum als notwendig für Glück, Status und Identität darstellen und immer neue Bedürfnisse „schaffen“.
Diese Wirtschaftsweise ist weder sozial gerecht noch ökologisch nachhaltig.
Eine Transformation hin zu einer gerechten und umweltfreundlichen Lebens- und Produktionsweise erfordert strukturelle Veränderungen in Wirtschaft und Politik. Gleichzeitig braucht es einen breiten Bewusstseinswandel – eine Veränderung von Konsumgewohnheiten und von Vorstellungen eines guten Lebens – in der Gesellschaft.
Gerade weil die gegenwärtige Form der Bedürfnisbefriedigung auf Kosten anderer geht, ist die Frage umso wichtiger: Was brauchen wir wirklich?
Warum sich der Blick auf die menschlichen Bedürfnisse lohnt
Bedürfnisse sind das, was Menschen zum Leben und Wohlbefinden brauchen. Sie hängen sowohl von unserem Körper (z. B. Hunger, Schlaf) als auch von unserer Psyche (z. B. Anerkennung, Sicherheit) ab. Manche Bedürfnisse sind für alle Menschen gleich, andere sind individuell unterschiedlich (gewichtet). Bedürfnisse sind nicht allzeit und überall gleich, sondern entstehen im Zusammenleben mit anderen Menschen und werden durch die Gesellschaft beeinflusst. Zugleich haben menschliche Bedürfnisse und die Versuche, sie zu erfüllen, wiederum Einfluss auf die Gesellschaft. Diese wechselseitige Beeinflussung zeigt, wie wichtig es ist, auf die menschlichen Bedürfnisse und deren Erfüllung zu blicken und diese besser zu verstehen – insbesondere auch bei der Suche nach solidarischen, ökologisch nachhaltigen Lebensweisen.
Was ist denn nun ein Bedürfnis, und was vielleicht auch nicht?
Verschiedene Wissenschaftler*innen und Denker*innen sind sich einig: Jede menschliche Handlung wird durch Bedürfnisse motiviert. Doch was jetzt genau als Bedürfnis gilt, bleibt umstritten. Das Nachdenken über Bedürfnisse wird heutzutage stark von den neoklassischen Wirtschaftswissenschaften geprägt. Sie gehen davon aus, dass menschliche Bedürfnisse grenzenlos sind, während die verfügbaren Mittel, um sie zu befriedigen, knapp sind. Dem gegenüber stellt der chilenische Ökonom Manfred Max-Neef eine andere Perspektive: Er unterscheidet zwischen grundlegenden Bedürfnissen (»needs«) und den Wegen, diese zu erfüllen (»satisfier«; deutsch etwa „Erfüller“). So ist ein Auto zu besitzen kein Bedürfnis, sondern ein Mittel zur Erfüllung des Bedürfnisses nach Teilhabe (über Mobilität) und Anerkennung. Es gibt aber auch andere Wege, dieses Bedürfnis zu befriedigen, z.B. Teilhabe durch Mobilität in Form von ÖPNV, oder Anerkennung durch eine sinnstiftende Tätigkeit, die auch von anderen als sinnvoll wahrgenommen wird.
In dieser Methode geht es darum, eine Annäherung an das Thema Bedürfnisse im Kontext von Klimakrise und globalen Zusammenhängen zu ermöglichen. Die Methode beginnt mit einer Spazier-Übung, die einen körperlich-emotionalen Einstieg zur Auseinandersetzung mit dem Thema bietet. Anschließend ermöglichen eine Selbstreflexion und ein Austausch eine inhaltliche Vertiefung. Ein achtsamer Umgang mit sich selbst und den anderen TN ist für die Methode sehr wichtig. Das beinhaltet für die TN, nur so weit mitzumachen und so tief hineinzugehen, wie es sich stimmig anfühlt.
Vorbereitung
Für die Spazier-Übung sollte vorab ein ruhiger, angenehmer, sicherer Ort (idealerweise ein Wald, Park, Garten oder eine größere Grünfläche) in der Nähe gesucht werden.
Die anleitende Person liest im Vorfeld zur Durchführung der Methode den kurzen Hintergrundtext (siehe oben) und verschafft sich einen Überblick über die Liste der menschlichen Bedürfnisse und Emotionen, sowie über das Aufgabenblatt zu Bedürfnissen (siehe Arbeitsmaterial zum Download).
Durchführung
Spazier-Übung (25 Minuten)
Draußen am gewählten Ort bilden sich die TN Paare. Es gibt während der Übung immer eine leitende Person und eine Person, die sich mit geschlossenen Augen bewegt. Die anleitende Person weist darauf hin, dass sie nach ca. zehn Minuten ein Signal geben wird, auf das hin die beiden Personen ihre Rollen miteinander tauschen. Die Paare einigen sich, wer von beiden zuerst leiten und wer zuerst die Augen schließen möchte. Die Person, die die Augen schließt, kann zusätzlich einen Schal oder ein Tuch um die Augen binden. Die leitenden Personen werden darauf hingewiesen, dass sie nun mitverantwortlich für die Sicherheit ihrer Partner*innen sind. Sie sollen auf Stolperquellen oder herunterhängende Äste u. Ä. achten und davor schützen. Darüber hinaus soll während der Übung nicht gesprochen werden. Die Person mit den geschlossenen Augen kann jederzeit ihre Augen öffnen, wenn sie sich zu unsicher fühlt.
Die leitende Person bietet der anderen Person ihren Handrücken an, auf den die Person eine Hand legt. Die leitende Person hat nun die Aufgabe, die Person herumzuführen. Sie hat dabei folgende Möglichkeiten:
1. Sie kann die Person an eine Stelle führen, wo es etwas Besonderes zu sehen gibt, und ihr dort auf die Schulter tippen. Auf dieses Signal hin öffnet die Person die Augen und schaut. Dabei versucht sie, das zu Sehende so zu sehen, als würde sie so etwas zum ersten Mal sehen. Sie versucht, wertfrei Formen, Farben, Textur etc. wahrzunehmen. Wenn die leitende Person der Person nach einer Weile wieder auf die Schulter tippt, schließt die Person die Augen wieder. Die leitende Person kann die Person weiter führen.
2. Sie kann die Hand der anderen Person an einen Gegenstand heranführen. Die andere Person lässt dann die Augen geschlossen und ertastet mit den Händen die ihr angebotene Stelle. Auch hier versucht sie, die Beschaffenheit des Gegenstandes wahrzunehmen, so wie sie ist, ohne sie erraten zu müssen. Wenn die Person das Ertasten beendet, kann die leitende Person eine Hand wieder aufnehmen und mit ihr weitergehen. Beide Möglichkeiten (zu sehen und zu tasten) können mehrfach an unterschiedlichen Stellen wiederholt werden.
Nach der Erklärung kann die Spazier-Übung beginnen. Nach dem Signal zum Rollenwechsel erhalten die Paare noch einmal die gleiche Zeit wie für die erste Runde. Danach wird die Gruppe für eine Auswertung der Übung zusammengerufen. Die Auswertung kann je nach Wetter draußen vor Ort oder drinnen im Raum durchgeführt werden.
Auswertung Spazier-Übung (10 Minuten)
Mögliche Impulsfragen:
- Wie ging es euch mit der Übung?
- Was habt ihr erlebt?
- Wie einfach oder schwierig war es für euch, euch auf die Übung einzulassen? Warum?
- Wie war es für euch, die Dinge möglichst ohne Wertung und mit Neugierde zu betrachten?
- Was steckt in der Übung, das euch auch in eurem Leben begegnet?
- Was hat diese Übung mit dem Thema „Mehr Sein als Haben“ zu tun?
- Könnt ihr in der Übung etwas entdecken, das zu einer hohen Lebenszufriedenheit beitragen kann, wenn man es im eigenen Leben anwenden würde?
- Was steckt in der Übung, das nicht nur mit eurer persönlichen Lebenszufriedenheit zu tun hat, sondern auch mit eurer Umwelt und eurem Miteinander?
Selbstreflexion und Austausch in Paaren (30 Minuten)
Anschließend gehen die TN wieder in den Paaren aus der Spazier-Übung zusammen. Die TN erhalten nun das Aufgabenblatt sowie das Blatt mit dem Überblick über die menschlichen Bedürfnisse und Emotionen (siehe Arbeitsmaterial zum Download).und haben 15 Minuten Zeit, für sich alleine die Fragen zu beantworten. Die anleitende Person kann Unterstützung anbieten, falls bei den TN Unklarheiten aufkommen. Bei Bedarf können die TN das Aufgabenblatt auch zu zweit ausfüllen.
Anschließend haben die Paare Zeit, sich gegenseitig ihre Aufgabenblätter vorzustellen, von ihren Reflexionen zu erzählen, zuzuhören und sich über Fragen auszutauschen. Die TN entscheiden selbst, was sie teilen möchten. Das Aufgabenblatt können sie im Anschluss an die Methode bei sich behalten.
Abschluss (5-10 Minuten)
Zum Abschluss kann in der Großgruppe ein Blitzlicht zu folgenden Fragen gemacht werden:
- Was nehmt ihr aus der Spazier-Übung und der Reflexion über Bedürfnisse?
- Was bedeutet das für eine gesellschaftliche Veränderung zu mehr Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit?
- Menschen sind – hier vor Ort und global sehr unterschiedlich privilegiert, haben z.B. mehr oder weniger finanzielle Möglichkeiten. Welche Rolle spielt das für euch bei der Frage, wie Bedürfnisse befriedigt werden?
Varianten
Übung Sitzplatz
Statt der Spazier-Übung in Paaren zu Beginn der Methode kann die Übung Sitzplatz (siehe Methode „Beziehungskrise?!“) durchgeführt werden. Der Sitzplatz ist eine Übung, die helfen soll, die Verbindung zur Natur, zu sich selbst und zu anderen zu stärken. Diese Variante eignet sich besonders, wenn die TN sich nicht kennen und (noch) kein ausreichendes Vertrauen zueinander haben, um die in dieser Methode vorgeschlagene Übung durchzuführen. Bei Bedarf können die beiden Übungen auch parallel stattfinden und die TN können selbst auswählen, welche Übung sie machen wollen.
Tipps und Hinweise für Anleitende
Das Spannungsfeld zwischen Lebenszufriedenheit und globalen Krisen thematisieren – Verbindung zu einer solidarischen Lebensweise herstellen: Viele Menschen erleben einen Widerspruch zwischen dem Wunsch nach persönlicher Lebenszufriedenheit und der Auseinandersetzung mit globalen gesellschaftlichen und ökologischen Krisen. Diese Methode möchte dieses Spannungsfeld thematisieren, ohne die Teilnehmenden (TN) zu überfordern oder mit Informationen zu globalen Krisen zu überfluten. Stattdessen werden sie in ihren konkreten Lebenswelten abgeholt und in ihrem individuellen sowie kollektiven Handeln für eine sozial-ökologische Lebensweise gestärkt.
Dabei geht es nicht darum, eine Debatte über Verzicht oder Konsumvermeidung zu führen. Ziel ist vielmehr, die TN dazu zu ermutigen und zu befähigen, eigene Bedürfnisse und die anderer besser zu verstehen und im Blick zu behalten, wenn sie über Strategien zu deren Erfüllung nachdenken.
Wichtig ist dabei, sich von einer neoliberalen Achtsamkeitspraxis abzugrenzen, die individuelle Selbstoptimierung in den Vordergrund stellt. Stattdessen soll eine kollektive Perspektive gefördert werden, in der Achtsamkeit als Mittel zur Stärkung von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung verstanden wird – insbesondere dann, wenn wir eigene Bedürfnisse sowie die anderer bewusster wahrnehmen.
Bei der Methode sollte besonders auf Diskriminierungssensibilität geachtet werden:
Für die Spazierübung gilt dies insbesondere im Umgang mit TN mit Sehbeeinträchtigungen. Bei Bedarf kann die Übung angepasst werden, um eine inklusive Teilnahme zu ermöglichen (siehe Variante 2).
Auch bei der Reflexion über Bedürfnisse sollen die TN dafür sensibilisiert werden, dass Menschen – global wie lokal – sehr unterschiedliche Möglichkeiten zur Bedürfniserfüllung haben, was stark mit globalen Ungleichheiten zusammenhängt. Die TN selbst bringen unterschiedliche Vorerfahrungen, Privilegien und Voraussetzungen, und die anleitende Person sollte hierfür besonders sensibel sein. Eine Auseinandersetzung mit Klassismus als struktureller Diskriminierungsform kann dabei hilfreich sein.
- Fromm, E. (1976): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Deutsche Verlagsgesellschaft.
- hooks, bell (1994): Teaching to transgress – Education as the practice of freedom; Routledge.
- Hunecke, Marcel (2013): Psychologie der Nachhaltigkeit – Psychische Ressourcen für Postwachstumsgesellschaften, Oekom.
- I.L.A. Kollektiv (2019): Das Gute Leben für Alle. Wege in eine solidarische Lebensweise. Oekom, München.
- Kashtan, M. (2014): Spinning Threads of Radical Aliveness. Transcending the Legacy of Separation in Our Individual Lives. Fearless Heart Publications. https://thefearlessheart.org/
- Max-Neef, M. (1986): Desarrollo a escala humana. Una opción para el futuro. CEPAUR.
- Rosenberg, M. (2009): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. Junfermann.
- Seeck, F. (2022): Zugang verwehrt: Keine Chance in der Klassengesellschaft– wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert.
- Sterling, S. (2010): Learning for resilience, or the resilient learner? Environ Educ Res 16:511–528.